Terra Indígena
Para: Kontext-Recherchestipendium – Scripten 11
Texto: Gleice Mere
Die Taschenlampe in der Hand, ängstlich nach den Tieren der Nacht Ausschau haltend, durchquere ich das Indianerdorf São Luís und erreiche das Haus des Häuptlings der Aruá, Senhor Anísio. Das Wohnzimmer ist offen wie eine Veranda, der Raum wird vom Schein einer roten Glühbirne überflutet. Sie sieht aus wie ein Stern, der die Dunkelheit des Regenwaldes zu durchdringen versucht. Im Hintergrund brummt der Stromgenerator. Zirka zwanzig Indianer sitzen auf dem Holzboden und starren zum Fernseher. Leise frage ich den Häuptling, ob wir am nächsten Tag die besprochenen Aufnahmen machen können. Er schaut mich kurz an, sagt „Guten Abend“. Dann wendet er sich wieder ab, um die Telenovela weiter zu verfolgen. Verlegen warte ich, bis Werbung kommt, frage dann erneut, ob wir am nächsten Tag Fotos machen könnten. Leicht abwesend, doch sehr höflich, antwortete er mit Ja und sieht wieder fern. Als ich gehe, habe ich den Eindruck, die Indianer haben meine Anwesenheit kaum bemerkt.
Am kommenden Nachmittag treffen wir uns auf derselben Veranda wieder. Der Raum ist jetzt leer, der Generator abgeschaltet. Ich will Senhor Anísio als Indianerhäuptling zeigen. Ich blicke in seine ruhigen Augen und kann kaum fassen, dass derselbe Mensch am vorherigen Abend gebannt in den Fernseher starrte. Aufmerksam und stolz sitzt er mit seinem Kopfschmuck auf einer handgefertigten Holzbank, ein Borduna, eine traditionelle indianische Waffe aus Holz, in der Hand. Neben ihm sitzt sein jüngster Sohn. Die Intensität seines Blickes und die große menschliche Würde des Mannes berühren mich. Wie hypnotisiert drücke ich auf den Auslöser. Es ist fast so, als würde ich mich hinter der Kamera verstecken. Minuten vergehen, erst dann merke ich, dass ich vergessen habe, die Schärfe einzustellen. Ich wiederhole die Prozedur. Sie schauen mich mit derselben Intensität wie beim Fernsehen an und lassen sich weiter fotografieren – ohne sich zu beschweren oder ungeduldig zu werden.
Wer mit Indianern zusammen gelebt hat, weiß ihre kleinen Gesten zu schätzen.
Anders als in den Erzählungen von Karl May, in denen der edle Wilde moralisch allen Weißen überlegen ist und sich der Häuptling mit weisen Worten als Führer herausstellt, beharren die meisten Regenwald-Indianer nicht auf ihrer Autorität. Sie schätzen das Schweigen und wirken auf Nicht-Indigene undurchdringlich. Die Bescheidenheit, ein Merkmal dieser Völker, wird oft als Unwissenheit angesehen. Sie mögen keine Eile, ihr Zeitgefühl ist anders als das unsere, weshalb zahlreiche Brasilianer sie als „faul“ bezeichnen.
Wie viele Indianer Brasiliens hat Senhor Anísio seine Muttersprache vergessen: „Als junger Mann wurde ich von den Verwandten getrennt. Ich musste lernen, wie man Kautschuk zapft. Die Weißen hatten es nicht gern, wenn wir uns in unserer Sprache unterhielten, weil sie dann nicht verstehen konnten, was wir untereinander sprachen. Sie sagten uns immer wieder: ‚Ihr sollt Portugiesisch sprechen.’ So kam es, dass ich nie wieder Aruá sprach. Meine Frau ist Makurap, aber sie hat die Sprache der Makurap nie gelernt. Unsere Kinder sind Aruá und sprechen nur Portugiesisch.“
Heute existieren noch etwa 40 Aruá-Indianer und nur sieben davon beherrschen ihre alte Sprache. Das ist kein Einzelfall. Ethnologen schätzen, dass bei Kolumbus’ Ankunft rund 80 Millionen Menschen in Amerika lebten. Davon starben allein in den ersten hundert Jahren der Kolonisierung rund 70 Millionen. Der brasilianische Linguist Aryon Rodrigues stellt fest, dass während der „Entdeckungszeit“ auf dem amerikanischen Kontinent zirka 1.175 Völker und Sprachen existierten. Die heute in Brasilien lebenden 235 Völker, verteilt auf 756 Indigenengebiete, sprechen nur noch 180 Sprachen. Und auch diese sind vom Aussterben bedroht. Die nichtstaatliche Organisation ISA (Instituto Socioambiental) geht davon aus, dass 70 Prozent der ethnischen Gruppen weniger als 1.000 Mitglieder zählen.
Das Indianerdorf São Luís besteht aus 14 Häusern, die im Kreis errichtet sind. Hier leben rund 80 Indianer aus fünf unterschiedlichen Stämmen: Aruá, Makurap,Tupari, Kanoê, Djeoromitxí. Alle sind aus ihren ursprünglichen Territorien vertrieben worden. Dadurch verloren sie weitgehend ihr traditionelles Wissen über Naturabläufe, Flora und Fauna – Wissen, das zum Überleben notwendig war und für intakte soziale Strukturen sorgte, die damit heute ebenfalls zerstört sind. Anfang des letzten Jahrhunderts war São Luís ein „Barracão“, ein Ort, an dem seit dem ersten Kautschukzyklus (1879 – 1912) Kautschukzapfer wohnten. Von hier aus wurde der Kautschuk für den Export über den Rio Branco zu anderen Teilen des Amazonasgebietes geschifft.
Das Reservat Rio Branco ist 236.137 Hektar groß und liegt direkt an der Grenze zum Naturreservat Guaporé. Im Reservat leben circa 800 Indianer, die entlang des Rio Branco angesiedelt sind, der durch die beiden Reservate fließt. Der Fluss bildet traditionell die Lebensader des heutigen Tupari-Territoriums. Er ist Nahrungsquelle und Transportweg zugleich. Das Reservat wurde 1986 eingerichtet, und es dauerte etliche Jahre, bis die Indianer davon erfuhren und begriffen, dass sie berechtigt sind, Nicht-Indigene aus ihrem Gebiet zu verweisen. Seit 1997, als mit dem Bau von sieben Wasserkraftwerken begonnen wurde, ist das natürliche Gleichgewicht erheblich gestört. Die Dämme stauen die Nebenflüsse, kanalisieren die Flussbetten, beeinflussen Strömungen sowie Pegelstände und gefährden dadurch auch den Fischbestand. Die Indianer wurden weder über die Bauvorhaben informiert, noch bot man ihnen eine Entschädigung für die Schäden. Das gesamte Ökosystem der Reservate ist dadurch bedroht. Aufgrund des Wassermangels haben die Indianer in der Trockenzeit außerdem Schwierigkeiten, sich im Reservat fortzubewegen. Da die Staudämme außerhalb des Reservates liegen, bleiben juristische Schritte ohne Erfolg. Bezeichnend ist, dass der wichtigste Bauträger des Projekts, der millionenschwere Unternehmer Ivo Cassol, gleichzeitig Gouverneur des Bundesstaates Rondônia ist. Zudem werden die Bauvorhaben von der Brasilianischen Nationalbank für Entwicklung (BNDS) gefördert.
Als ich zum ersten Mal West-Brasilien besuchte, ahnte ich nicht, was ich vorfinden würde. Aus historischen Gründen ist die Kultur der Indianer für die meisten Brasilianer genau so unbekannt wie für Ausländer – obwohl die Indianer zwölf Prozent des brasilianischen Territoriums besitzen.
Bewusst oder unbewusst existiert in der brasilianischen Gesellschaft eine Art allgemeine Verachtung diesen Minderheiten gegenüber, die mit ca. 897.000 Einwohnern weniger als ein Prozent der Bevölkerung bilden. Diese Haltung hat verschiedene Gründe: Brasilien ist ein besonders vielseitiges Land, das besessen ist von der Idee der nationalen Einheit. Dieses Bewusstsein ist seit den 1930-er und -40-er Jahren während der Diktatur des Präsidenten Getúlio Vargas tief im Bewusstsein der Brasilianer verankert. Die Anerkennung der Pluralität hingegen –damit ist die indianische Kultur mit territorialer und politischer Souveränität gemeint – sorgt in Brasilien für große Spannungen.
Allgemein herrschen typische Vorurteile wie Indianer seien Alkoholiker und faul.
Es wird angenommen, ein Indianer wisse nicht, wo die Entwicklung hingeht und produziere nichts. Wenn er aber arbeitet und etwas herstellt, wird er sofort nicht mehr als Indianer eingestuft. Nach diesem Prinzip werden „faul“ und „unproduktiv“ Attribute des Begriffs „Indianer“.
Im Reservat geht die 65-jährige Maeroká Tupari wie jeder andere Brasilianer wählen. Sie gebraucht ihr Recht mitzubestimmen, wer Präsident von Brasilien sein soll. Maeroká Tupari ist zierlich und schüchtern. Erst nach mehreren Tagen Beisammenseins traut sie sich, Fremden gegenüber einige Wörter auf Portugiesisch zu sprechen. Sie hat viel durchgemacht. Sie sah, wie ihre Familienmitglieder einer nach dem anderen an Grippe und Masern starben oder als Kautschukzapfer versklavt wurden. Sie kann oder will nicht darüber sprechen, aber ich merke, dass sie gern in meiner Nähe ist. Mich macht das stolz. Ich bewundere diese Frau. In all ihrer Stille und Bescheidenheit ist sie ungeheuer präsent und strahlt sie ein großes inneres Gleichgewicht aus. Dieses Gefühl erlebe ich bei allen Indianern, die gemeinsam in einer Maloca leben.
Die Maloca ist eine Indianersiedlung der traditionellen Art, wo alle Familien ein großes Strohhaus miteinander teilen. Maeroká erzählt: „In der Maloca gingen wir schlafen, wenn es dunkel wurde, und wachten während der Nacht auf. Wir machten Feuer und blieben in unseren Hängematten liegen. Die Ältesten erzählten uns Geschichten von der Erschaffung der Tupari und von unseren Vorfahren. Sie erzählten diese so oft, bis wir sie uns gemerkt haben. Ich bin die Tochter des Cacique Waitó. Er war ein guter Mann.“
Das Vertrauen, das mir Maeroká entgegenbringt, rührt daher, dass ich ihr Bilder aus ihrer Jugend mitbrachte. Fünfzig Jahre nach dem Aufenthalt des Schweizer Ethnologen Franz Caspar erkannten sich sieben Tupari aus dem letzten Maloca dieses Volkes auf seinen Fotos wieder. Einige von ihnen konnten sich sogar noch an Caspar erinnern.
Es ist allgemein bekannt, dass europäische Wissenschaftler lateinamerikanische Urvölker zu Forschungszwecken aufsuchten, aber dass durch den Kontakt auf beiden Seiten eine emotionale Bindung entstand, erfuhr ich erst durch den Besuch im Reservat und bei den Familien der Ethnologen in Deutschland und in der Schweiz.
“Ich hatte zuvor nicht geahnt, dass trotz unterschiedlicher Welt- und Wertvorstellungen derartig viel Verbundenheit und gegenseitiges Verständnis entstehen kann.”
Im August 1905 erreichte die deutsche Ornithologin Dr. Emilie Snethage, 37, das Museum Goldi in Pará, um ihre Stelle als Zoologische Assistentin anzutreten. Sie war die erste Frau, die als Wissenschaftlerin im Amazonasgebiet angestellt wurde, und hatte zuvor in Deutschland als eine der ersten Frauen Naturwissenschaften studieren dürfen. Obwohl sie zu ihrer Zeit eine bedeutende Ornithologin und sogar mit Präsident Roosevelt befreundet war, der sich ebenfalls für das Amazonasgebiet interessierte, blieb ihre Biografie in Brasilien und Deutschland weitgehend unbekannt.
Während des Ersten Weltkrieges hielt sich Dr. Emilie Snethage in einem Kloster auf. Dort wurde sie gut behandelt, blieb aber anderthalb Jahre eingesperrt. Ihre Post musste sie im Museum abgeben. Nach Kriegsende bekam sie wieder ihre Stelle als Direktorin des Museums zurück. Aber danach, aufgrund der knappen Einnahmen des Staates Pará wegen der Gummikrise und ohne eigene finanzielle Mittel, trat sie als „naturalista viajante“ ins Museu Nacional von Rio ein. Ihr Großneffe, Dr. Rotger Snethage, gibt heute die Erinnerungen seines Vaters wieder, der wiederum von der Tante im Regenwald berichtet hatte. Eine davon handelt von einem schrecklichen Missgeschick: Eines Tages half sie, spielerisch im Wasser plätschernd, Ruderern, als ihre Hand von einem Piranha erfasst wurde. Sie versuchte, ihren nur noch an einem Fetzen Fleisch hängenden rechten Mittelfinger zu schienen, musste ihn sich aber einige Tage darauf selbst abschneiden, da ihr keiner ihrer Leute diesen Dienst erweisen wollte.
„Mein Leben ist einförmig, aber genussreich, besonders der Morgen, wo ich in den Wald gehe, mich gewöhnlich nicht vor zwei oder drei Uhr los reißen kann, nach Hause komme, esse, Vögel präpariere, bade, Abend esse, Notizen und Etiketten schreibe, Patience lege, in einer alten Zeitschrift schmökere, in die Hängematte steige und gewöhnlich schnell und gut einschlafe.“
So lautet eine Passage aus dem letzten Brief von Dr. Emilie Snethage, den sie am 4. November 1929 aus Porto Velho/Rondônia, damals Guaporé, an ihren Bruder in Deutschland schrieb. Ende November 1929 teilte diesem dann ein deutscher Geschäftsmann aus Rio de Janeiro in einem Telegramm mit, dass Fräulein Dr. Emilie Snethlage in Porto Velho am Rio Madeira auf ihrer letzten Forschungsreise einem Herzschlag erlegen sei. Das war das Ende der Laufbahn einer couragierten Frau, die ihrer Zeit weit voraus war.
Dr. Rotger Snethlage sitzt von Freunden umgeben auf dem Dachboden seines Potsdamer Hauses. Er begeht seinen 70. Geburtstag. Ich schenke ihm ein Heft mit Bildern seiner Großtante und seines verstorbenen Vaters, Dr. Emil Heinrich Snethlage. Seine Freude ist groß. Einer seiner Studienfreunde sagt mir: „Der Rotger hat seinen Vater schon immer bewundert. Er starb, als Rotger drei Jahre alt war.“ Das war 1939, als der Ethnologe mit 42 Jahren den Folgen einer im Kriegsmarinedienst erlittenen Verletzung erlag. Er hinterließ sein bis heute nicht aufgearbeitetes Tagebuch, einen Stummfilm und diverse Manuskripte. Die von ihm gesammelten Objekte befinden sich bis heute im Ethnologischen Museum Berlin und blieben größtenteils vom Krieg verschont.
Eines scheint mir merkwürdig: So weit weg vom Regenwald scheint das Leiden die Familie Snethlage genau so getroffen haben wie die indigenen Völker, die 1933-1934 von dem Wissenschaftler im Guaporé aufgesucht wurden. Seine Frau und der drei jährigen Sohn wurden aus Potsdam vertrieben. Auf der Flucht konnten sie den Nachlass des Ethnologen nach Österreich retten. Wegen seinen ethnologischen Expeditionen musste die Frau von Dr. Snethlage neun Jahre lang warten, bis sie endlich heiraten konnten. Auch danach war er viel weg, und er starb früh, sodass sie insgesamt nicht lang zusammenlebten. Nach Kriegsende kehrte sie mit ihrem Kind nach Deutschland zurück und musste wieder Unmenschliches leisten, um nach Aachen zu gelangen und dabei alle Hinterlassenschaften ihres Mannes mitzunehmen.
Als Dr. Emil Snethlage die Tupari aufsucht, schätzt er dieses Volk auf 250 Menschen. 1948, als Dr. Caspar zum ersten Mal bei den Tupari wohnt, schätzt er sie noch auf 200 Einwohner, 1955 sind sie schon auf 66 Menschen reduziert. Konkwat, der älteste Sohn des Häuptlings Waitó und Bruder von Maeroká, sitzt auf seiner Hängematte und berichtet über den „Doutor“, den Ethnologen Franz Caspar, der 1948 und 1955 seinen Stamm besuchte.
„Ich erinnere mich sehr gut an Doktor Francisco. Er lebte unter uns wie ein echter Indianer. Er konnte Affen jagen, fischen, lief nackt, ließ sich den Körper bemalen, lernte unsere Sprache, aß unser Essen und trank mit uns Chicha. Es war, als würde er zu unserer Familie gehören. Ich würde sehr gern seine Söhne kennenlernen, um ihnen von ihrem Vater zu erzählen. Aber sie müssen sich beeilen, hierher zu kommen. Ich bin alt und krank.“
Im Januar 1948 betritt der Schweizer Franz Caspar ein Reisebüro in La Paz, der Hauptstadt Boliviens, um ein Ticket nach Europa zu bestellen. Der Verkäufer breitet eine Karte von Südamerika aus und zeigt ihm die möglichen Reiserouten: „Sie können mit dem Flugzeug von Rio über Dakar fliegen oder den Zug nach Buenos Aires nehmen; von dort aus fahren mehrere Schiffe nach Europa. Sie können aber auch die Pazifikküste entlang fahren, so lernen Sie den Panama-Kanal kennen.“ Keiner der Vorschläge überzeugt Caspar, denn er will unbedingt den Regenwald sehen. Der Bolivianer aus dem Reisebüro schüttelt den Kopf. Für eine Reise zum Amazonas hinunter sei er nicht zuständig, seiner Meinung nach könne ein solches Unternehmen auch nur übel ausgehen: Malaria, Gelbfieber, Insektenplage und wilde Tiere. Schließlich entscheidet sich Caspar für einen Flug zur brasilianischen Grenze. Danach will er auf dem Landweg nach Brasilien. Doch schon kurz hinter der Grenze, im Dschungelstädtchen Guajará Mirim, endet seine Reise. Er entschließt sich zu bleiben, fasziniert von „Abenteuern und echten wilden Indianern“.
Zehn Monate später verlässt er den Stamm der Tupari, bei dem er während dieser Zeit lebte. 1952 schreibt er in seinem Buch „Tupari – Unter Indios im Urwald Brasiliens“: „Wie nie zuvor spürte ich, dass mir diese nackten Menschen – anfangs so fremd und oft recht abstoßend – im Laufe der Monate gute Freunde und vertraute Nachbarn geworden waren. Niemand war in diesem mächtigen Hause, der mir nicht in einem hungrigen Augenblick eine gebratene Wurzelknolle, eine Papaya-Frucht oder eine Schale Chicha mit freundlichem Gruß angeboten hätte. Alle waren auf ihre Art um mein Wohlergehen besorgt, und alle wussten auch, dass ich sie nicht minder lieb gewonnen hatte. Kleine Kinder waren inzwischen auf die Welt gekommen, andere hatten unter meinen Augen laufen gelernt, und ich hatte sie auf meinem Rücken reiten lassen. Nur zwei oder drei der kleinen Knirpse fürchteten sich noch vor meinem Bart. Die anderen scheuten sich nicht, daran zu zupfen, und alle nannten mich zutraulich ihren Großpapa oder gar ‚toto amsi-tan – ‚Großpapa mit der langen Nase.“
Der Regenwald muss in sich eine Energie haben, die trotz aller Schattenseiten wie Fliegenplagen und tropischen Krankheiten allen diesen Menschen, Europäern und Indianern, etwas besonders vermittelt. Von 1905 bis heute sind über hundert Jahren vergangen, trotzdem bleiben diesen Menschen durch ein gemeinsames Schicksal verbunden. Frauke Caspar aus Zürich, die Witwe des Schweizer Ethnologen, erzählt über die Reise ihres Mannes, als hätte diese erst gestern stattgefunden: „Wir hatten schon zwei Kinder, als Franz erneut zu den Tupari fuhr. Dieses Mal war er als richtiger Ethnologe unterwegs, da er in Hamburg studiert hatte, wo wir uns kennenlernten. Kurz vor seiner Rückreise sind die Tupari an Grippe erkrankt und konnten sein Gepäck nicht tragen. Deshalb hat er sich zum vereinbarten Abholtermin verspätet. Er verpasste den Flieger der brasilianischen Bundeswehr, der eine Woche lang auf ihn wartete. Also nahm er mit den gesammelten Objekten den Landweg. Nach sechs Monaten ohne Nachricht rief er mich an und erzählte, was geschehen war.“
Et’oé, die letzte Sängerin der Tupari, ist klein und aufgeweckt. Sie lädt mich ein, Indianerlippenstift zu probieren.
Die jüngeren Mädchen warnen mich: „Es tut weh und danach werden die Lippen austrocknen.“ Neugierig geworden, kann ich der Einladung dennoch nicht widerstehen, außerdem habe ich diverse Cremes in meinem Necessaire. Zusammen gehen wir aus dem Haus und Et’oé holt Blätter aus dem Busch. Mit zarter Stimme sagt sie: „Zuerst musst du deine Lippen mit dem Blatt reiben, dass die Farbe einzieht. Danach musst du dieses Blatt lange kauen und die Lippen damit anfeuchten. Ich finde Indianerlippenstift viel besser als den der Weißen. Er hält länger. Ich kann Chicha trinken soviel ich will, meine Lippen bleiben trotzdem rot.“ Wir schauen uns an und kauen die grünen Blätter, die sich mit dem Speichel in ein rotes Pigment verwandeln. Danach sind meine Lippen tatsächlich rot.
Wenn Et’oé redet, klingt ihr portugiesischer Akzent sehr sanft. Als ihre Tochter Texte von alten Liedern vorliest, die in Caspars Monografie über die Tupari notiert sind, singt sie kurz die Melodie, welche „Doutor Francisco“ besonders gern gehört hatte. „Jedes Mal, wenn wir dieses Lied sangen, bat er uns es zu wiederholen; es war sein Lieblingslied.“ Dann atmet sie tief durch und sagt leise:
„Wenn ich Bilder aus dieser Zeit sehe, möchte ich weinen. Aber ich tue es nicht vor meinen Enkelkindern. Ich möchte nicht, dass sie mich weinen sehen. Innerlich tue ich es.“
West-Brasilien blieb bis Anfang des 18. Jahrhunderts von der westlichen Zivilisation unberührt. Als erste gelangten die Bandeirantes und Jesuiten im Auftrag der Portugiesische Krone dorthin und legten Siedlungen an. Die Bandeirantes waren Mitglieder von Expeditionstrupps, die ab dem 17. Jahrhundert auf der Suche nach Gold, Diamanten und Sklaven das brasilianische Landesinnere erkundeten und erschlossen. Im 19. Jahrhundert zogen Tausende von Arbeitern wegen des Kautschuks in die Region. 1907 beauftragte die Regierung den späteren Marschall Cândido Mariano da Silva Rondon, damals Forscher und Landvermesser, die Telegraphenleitung zwischen Cuiabá und Porto Velho zu bauen. 1913 schickte der Ex-Präsident der USA, Theodore Roosevelt, Beauftragte in die Region, um Rondon zu kontaktieren, da er sich schon als junger Mann für das Gebiet interessierte. Rondon lud Roosevelt zu einer Expedition ein, während derer sie das Flussbett des Rio da Dúvida erkunden wollten. 1914 publiziert Roosevelt sein Buch über diese Expedition: Through the Brazilian Wilderness. Der Rio da Dúvida wurde später zu Rio Roosevelt umgetauft.
Mit dem Zweiten Weltkrieg begann ein weiterer Kautschukzyklus in West-Brasilien, verbunden mit einer neuen Einwanderungswelle. In den 70-er Jahren wurden außerdem Tausende Menschen aufgerufen, die Region zu besiedeln – ohne dabei Rücksicht auf die indigenen Völker und die Artenvielfalt zu nehmen. Entlang Rondons Telegrafenlinie wurde die Bundesstrasse BR-364 gebaut, an der zahlreiche Siedlungen entstanden. Während dieser Zeit wanderten 25 Prozent der Bevölkerung aus dem Bundesstaat Paraná, Südbrasilien, nach Rondônia aus. Innerhalb von 30 Jahren explodierte die Bevölkerungszahl von 37.000 (1950) auf zirka 500.000 (1980) Einwohner. Heute leben etwa 1,5 Millionen Menschen in Rondônia.
Die brutale Invasion von Holzhändlern und Groß- und Kleingrundbesitzern hatte zur Folge, dass Rondônia heute eine der am meisten gerodeten Regionen des Amazonasgebiets ist.
Fast alle indigenen Völker wurden dabei aus ihren angestammten Territorien vertrieben. Der Nachbarbundesstaat Acre hingegen verdankt den weitgehenden Erhalt seines Waldgebietes vor allem dem Gummizapfer und Ökologen Chico Mendes, Gründer der regionalen Arbeiterpartei und einstiger Vertrauter des ehemaligen Gewerkschaftsführers und heutigen Präsidenten Brasiliens, Lula. Mendes’ Kampf gegen die Waldrodung, welche damals die Interamerikanische Entwicklungsbank (IADB) finanzierte, wurde ihm allerdings zum Verhängnis: Mächtige Gegner ließen ihn ermorden.
Senhor Luizinho, der sich 1955 mit einer prächtigen Käferkette von Franz Caspar fotografieren ließ, schaut müde. Er hat nicht mehr genügend Kraft, die zehn Kinder, die bei ihm wohnen, zu ernähren. Seine jüngsten Kinder sind fast gleichaltrig wie seine Urenkel. „Ich erinnere mich noch an die letzte Maloca. Wir haben sie verlassen, weil in der Nähe Flugzeuge landeten und starteten. Wir hatten Angst. Wir sind bei den Kautschukzapfern eingezogen und haben seitdem nie wieder eine Maloca gebaut. Käferketten habe ich auch nicht mehr machen können, da es hier, wo wir heute leben, keine geeigneten Käfer dafür gibt. Unsere Musikinstrumente können wir ebenfalls nicht mehr spielen, hier gibt es weder Bambus für Flöten noch Kürbisse für Trompeten.“
Die Regenwald-Indianer essen gern Affen, Larven, geräucherten Fisch und Wild. Dabei erwecken sie den Eindruck, sich für ihre Essgewohnheiten vor den Nicht-Indigenen zu genieren, da sie wissen, dass sich viele davor ekeln. Fisch oder Huhn in Bananenblättern auf dem Feuer gegrillt ist eines der leckersten Gerichte, das ich jemals gekostet habe. Als Beilage werden mir gekochte Bananen und gerösteter Mais gereicht. Außen sind die Maiskörner knackig, innen weich.
Einer der Gründe, weshalb die Indianer gelegentlich Kontakt zu Nicht-Indigenen suchten, lag in der Notwendigkeit, Metallwerkzeug wie Macheten und Äxte zu erhalten, um die Produktivität bei der Feldbestellung zu erhöhen. Es scheint, als wären diese Menschen von einem Tag auf den anderen aus der neolitischen Periode ins Metallzeitalter katapultiert worden. Aus besagter Notwendigkeit heraus waren die Indianer bereit, weit zu reisen und mit den „Weißen“ Kontakt aufzunehmen.
In einem Interview berichtet der wichtigste Erzähler der Yanomami-Indianer, Davi Kopenawa, über alte Legenden von Metallwerkzeugen und die ersten Begegnungen mit Nicht-Indigenen:
„Damals konnten die Yanomami die Weißen nur treffen, wenn sie sehr weit reisten, und sie taten es nicht ohne Grund. Sie hatten einmal ihre Metallwerkzeuge gesehen und sie begehrt, da sie nur Metallstücke besaßen, die Omama [Die alten Yanomami besaßen Fragmente von abgenutzten Macheten und Äxten, die sie durch ein kompliziertes Tauschsystem mit anderen ethnischen Gruppen erhalten hatten, aber deren Ursprung sie auf Omama zurückführten – einen legendären Helden.] hinterlassen hatte. (…) Vorher hatte ich nie einen Weißen gesehen. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass es solche Menschen gibt. Als ich sie zum ersten Mal sah, weinte ich vor Angst. (…) Ich dachte, dass sie Kannibalengeister wären, die uns fressen würden. Ich fand sie sehr hässlich, ausgeblichen und behaart. (…) Ich fürchtete ihre Motoren, ihre elektrischen Lampen, ihre Schuhe, ihre Brillen (…), alles machte mir Angst (…)“.
Senhor Manoel, Anning Tupari, der Sohn Maerokás, kommt vorbei und lädt Nachbarn zur Hilfe bei der Heuernte auf seinem Feld ein: „Es ist alles zugewachsen, und allein schaffe ich es nicht.“ Als Belohnung gibt es Chicha, den Lieblingstrunk der Indianer. Es handelt sich dabei um ein nahrhaftes, gegorenes Getränk aus gekochtem Mais oder Maniok. Nur Frauen dürfen die Chicha herstellen, die in einem Holzmörser in kreisförmigen Bewegungen gestampft wird. Infolge des anschließenden Gärungsprozesses entsteht das alkoholische Getränk. Manche junge Männer laufen etliche Kilometer, nur um Chicha zu trinken. Beim Fest setzen sich alle ins Chicha-Haus und trinken Tag und Nacht, bis das Getränk alle ist. Früher haben die Tupari dabei getanzt und gesungen, heute wird fast nur noch getrunken.
Die Akkulturierung, die die indigenen Völker des Reservates Rio Branco durchmachen, ist Folge des Verlustes ihrer traditionellen Territorien. Dabei ist es erstaunlich, dass sie überhaupt überleben konnten.
Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss sagte in seinem Buch „Traurige Tropen“ (1955) das Verschwinden der indigenen Völker voraus.
In den 70-er Jahren zeigten sich brasilianische Ethnologen ebenfalls pessimistisch. Tatsächlich wurden in der Vergangenheit ganze Stämme ausgelöscht. Gerade die älteren Mitglieder dieser Kulturen, die eine Brücke zur Vorstellungswelt der Nicht-Indigenen hätten bauen können, leben nicht mehr. Nachfolgende Generationen sind orientierungslos und haben nur die Gewalt kennengelernt. Deshalb werden sie heute durch die Nicht-indigene Bevölkerung als gewalttätig vorverurteilt.
Bekannt wurde das „Massacre do Paralelo 11“. 1963 wurde ein ganzes Indianerdorf mit 30 Einwohnern ausgelöscht. Man warf Dynamitstangen über die Malocas und die Indianer, die den ersten Angriff überlebten, wurden mit Maschinengewehren getötet. Eine Indianerin wurde von mehreren Männer vergewaltigt und anschließend mit der Machete zerstückelt.
Im April 2004 töteten die Cinta-Larga-Indianer 29 Goldgräber, die in ihr Reservat eingedrungen waren. Auf diesem Territorium befindet sich eine der zehn größten Diamantminen der Welt. Durch die neue brasilianische Verfassung aus dem Jahre 1988 haben die Indianer das verbriefte Recht, ihre eigene Identität zu bewahren. Dazu gehört auch das Recht auf Land. Im Falle der Cinta Larga bedeutet dies, dass auf ihrem Land nicht ohne ihre Zustimmung nach Diamanten gegraben werden darf. Wie dieses Reservat sind auch andere bedroht, falls in der Verfassung eine Änderung zugunsten der Ausbeutung von Bodenschätzen vorgenommen wird. Betroffen wäre z.B. das Reservat der Yanomami, das riesige Goldvorkommen auf den heiligen Bergen dieses Volkes enthält.
Eine weitere Gefahr liegt in der expansiv betriebenen Landwirtschaft. Das Agrobusiness bringt Divisen, die Brasilien dringend benötigt. Zahlreiche scheinbar harmlose kleine Staudämme im Amazonasgebiet produzieren „saubere Energie“, doch sie beeinträchtigen den natürlichen Kreislauf des Regenwaldes und gefährden Flora und Fauna – und damit auch die Ureinwohner.
Die Gier nach Rindfleisch frisst weiter den Regenwald auf und führt zur globalen Erwärmung.
Die Rechnung für diese hemmungslose Ausbeutung scheinen bislang allein die Urvölker zu zahlen: mit ihrer Gesundheit, ihrer Kultur, ihrem Leben. Doch auch die heutigen Nutznießer – von der brasilianischen Regierung bis zum Endverbraucher in Europa – könnten einst dafür bezahlen, dass sie jahrzehntelang einen behutsamen und respektvollen Umgang mit dem Regenwald und seinen Ureinwohnern missen ließen. Der brasilianische Wissenschaftler und Umweltsekretär des Bundeslandes Amazonas, Virgílio Vianna, meint: „Der Regenwald ist zwar nicht die grüne Lunge des Erdballs, aber einer Art Klimaanlage. Seine Schwankungen beeinflussen andere Teile des Planeten. Als es 2005 im Amazonasgebiet eine Dürre gab, fegte ein Orkan über New Orleans. Das war kein Zufall.“